Foto: Torsten Bruch

Eröffnungsrede

Dodo Schielein: »Stille Musik« im Einstellungsraum Hamburg, am 29. April 2015

von Dr. Belinda Grace Gardner
»Stille Musik« Der Titel der Ausstellung mit Arbeiten von Dodo Schielein, die im Einstellungsraum stattfindet, basiert auf einer scheinbaren Poesie der Widersprüche. Wie kann eine musikalische Klangfolge still sein? Kann überhaupt etwas „Musik“ sein, wenn es sich in Gestalt – oder vielmehr akustischer Gestaltlosigkeit – von „Stille“ mitteilt? Wie könnte eine Artikulation „stiller Musik“ wahrnehmbar sein? Und wo ist das „ästhetische Ereignis“ einer „stillen Musik“ verortet? Im Raum, in Gedanken, in der Erinnerung, in einem geistigen, virtuellen Nachklang? In einem beredten Schweigen, oder gar ganz woanders, wo wir vielleicht überhaupt erst durch ebenjene unerhörten, ungehörten, leisen oder auch tonlosen Klangwelten der Künstlerin hingelangen: ein Abenteuer, in jedem Fall, das im Kopf, also in den individuellen geistigen Räumen von uns, den einzelnen RezipientInnen, ebenso stattfindet wie in der kollektiven Erfahrung einer geteilten, gemeinsamen Wirklichkeit.
In dieser gemeinsam erlebten Realität stehen wir nun in der Ausstellung, hörend, sehend, aufmerksam lauschend, auf verschiedenen Ebenen, Kanälen, Frequenzen von „stiller Musik“ umgeben, die auf eine Erweiterung unserer Sinne zielt und unseren Blick ebenso öffnet wie unsere Ohren – wozu in der von Dodo Schielein geschaffenen Synthese eines ästhetischen – genauer: synästhetischen – und rezeptiven Zusammenspiels von Körper und Geist immer auch die inneren Perzeptionsorgane gehören.
Eine Möglichkeit, jener „stillen Musik“ habhaft zu werden, führt die Hamburger Klangkünstlerin und Komponistin in ihrer Bildgruppe singender Vögel – eine neue Arbeit, die der Ausstellung auch den Namen gegeben hat – buchstäblich vor Augen. In kreisrunden Öffnungen offenbaren sich, wie von feinstofflichen Käfigen umfasst, vom visuellen Rauschen flirrender Pixelraster überlagert und halbverdeckt Vogelköpfe mit aufgesperrten Schnäbeln. Es handelt sich um Montagen verschiedener Repräsentationen von Zaunkönigen, die digital gemischt und nun gleichsam als Konkretisierungen einer Abstraktion, oder – umkehrt – als Abstraktion eines konkreten Gegenstands in Erscheinung treten. Beides ist denkbar, je nach Perspektive.
Die Künstlerin setzt das technische Raster elektronischer oder digital gestützter Bildverfahren – seit den Rasterpunkt-Bildern von Protagonisten der Pop-Art wie Roy Lichtenstein oder Andy Warhol fast schon zur Metapher für die allumfassende Medialisierung der Welt geworden – gezielt gegen den „realen Moment“ der figurativen, auf die Natur verweisenden Bildlichkeit der Vögel. Deren digitaler Körperlosigkeit entspricht die Tonlosigkeit ihres Gesangs, der bei der Betrachtung als Assoziation, als abgerufene Erinnerungsspur, in den Köpfen des Publikums erklingt.
Gleichzeitig verweist aber gerade auch die Stille, die Abwesenheit der Vogellieder, auf den „realen“ Körper, die diese gewöhnlich erzeugen. Die Bildzeichen generieren durch die Absenz dessen, worauf sie Bezug nehmen, eine Präsenz im Resonanzraum mentaler Projektion. Anders ausgedrückt: Wir sehen die Vögel mit ihren aufgerissenen Schnäbeln und denken uns das Zirpen, das aus ihren Kehlen hervorbricht, ebenso dazu wie die in freier Wildbahn beheimateten Urheber dieser imaginären Klänge, obschon uns deren künstlerisch verfremdeten Bilder als trügerische Konstruktion entgegentreten, die eigentlich nicht der Wirklichkeit entspricht.
Um eine Verschränkung von Bild, Klang, Zeichen und der Manifestation physischer Energie in diesen geht es in einer Arbeit, die den Einsatz des Betrachters, der Betrachterin fordert und diese zu Handelnden macht, die unmittelbar an deren Verwirklichung teilhaben. Dodo Schielein hat zwei Stempel entwickelt, die in der Anwendung das zu Gehör bringen, was im Abdruck zu sehen ist: Einmal ist das Wort „Boom!“ in weißer Schrift auf schwarzem Grund Ergebnis beherzter Stempelaktivität. Das andere Mal resultiert durch die Aktion mit dem Stempelgerät ein kerniges „Tchak!“ in schwarzen Lettern auf weißem Grund. Beide Male sind die Worte von explosiver Zackensilhouette umringt, wie man es aus der Welt der Comics kennt.
Auf onomatopoetischer, also lautmalerischer Ebene drücken die Worte bereits den Klang aus, den sie benennen. Als verbale Träger von Klangphänomenen sind sie mit diesen insofern phonetisch quasi identisch. Durch die physische Handlung, das kraftvolle Aufdrücken des Stempels auf eine Fläche – hier eine von der Künstlerin platzierte Papierbahn an der Wand, die im Laufe des Ausstellungsgeschehens zum kollektiven Bild- und gewissermaßen so auch zum visualisierten Tonträger wird – entsteht ein Klangbild oder auch Bild-Klang: Das „Boom!“ und „Tschak“, das dem Wort sprachlich innewohnt, wird durch die körperliche Handlung mechanisch redupliziert. In den Worten der Künstlerin: „Die Handlung erzeugt einen Klang, eine Spur, die widerspiegelt, was man gerade getan hat.“ Diese „Schleife, dieses Feedback“ findet sie „grundsätzlich spannend“.
Im Gespräch hat Dodo Schielein auch das Stück „Musique Non Stop“ der Gruppe Kraftwerk erwähnt, das erstmals auf deren „Electric Café“-Album von 1986 erschien (2009 in „Techno Pop“ umbenannt). Der gesamte Songtext basiert auf einem Rapport der drei klingenden Begriffe „Boing, Boom, Tchak“, von einigen markanten „Pengs“ und „Zongs“ durchbrochen. Zudem kommen „Tchak“ und „Boom“ offenbar, wie die Künstlerin ausgeführt hat, auch im musikalischen Kontext als Begriffe für Schlagzeug und Becken zur Anwendung, wobei „Boom“ für die Trommel und „Tchak“ für das Becken steht – ein weiterer interessanter Verweis auf die Beziehung zwischen Wort und Klang, und dem körperlichem Einsatz, der Letzteren erzeugt.
Im Sinne der Idee der „stillen Musik“ wiederum, die hier in der Ausstellung auf unterschiedliche Weise zum Tragen kommt, könnte man angesichts dieses Handlungsstücks der Künstlerin sagen, dass die Musik hier nunmehr in der Stille des Geräts, des Stempels, oder auch des ungesprochenen Wortes, geborgen ist.
Der zwischen Feinstofflichkeit und Handfestigkeit oszillierende Grundton, der sich durch alle Arbeiten von Dodo Schielein hindurch zieht, zeigt sich in besonderer Weise in der zarten Wandarbeit „Home“ in lichten Weißtönen, die auf eine im Rahmen einer Ausstellung in Japan gezeigten Installation mit dem Titel „Rascheln“ von 2012 zurückgeht. In ihrer aktuellen Inkarnation im Einstellungsraum bildet ein Ensemble aus zwölf, von grazilen Prägemustern durchwirkten Tapetenelementen unterschiedlicher Struktur und Oberflächenbeschaffenheit eine Klangtapisserie subtilster Art. In den Elementen sind winzige Tonabnehmer eingelassen, die jede Berührung der Oberfläche klanglich verstärken. Die jeweilige Übertragung dieser spezifischen „stillen Musik“ ist über Kopfhörer zu erleben, durch die ein individueller intimer Klangraum entsteht. Jede noch so kleine Geste der Hand, wenn man etwa mit dem Finger über eines der Elemente streicht, erzeugt einen eigenen zarten oder auch härteren Klang, ein Rascheln oder Riffeln, ein Wischen oder Reiben. Die Kabel, die an der Wand wie ein organisches System zwischen den Klangkörpern verlaufen, changieren zwischen technoider und pflanzlicher Anmutung. Das Publikum ist auch hier wieder aufgefordert, die dem visuell-stofflichen „Cluster“ innewohnenden potenziellen Töne durch die eigene Bewegung, Handlung und Berührung zu aktivieren.
Die Handlung wird dem Betrachter, der Betrachterin in einer weiteren in der Ausstellung zu sehenden/hörenden Wandarbeit „walking“ abgenommen: Aus den beiden Lautsprechern, die in einigen Metern Entfernung voneinander an der Wand fixiert sind, erklingt das Geräusch von Schritten, die von links nach rechts und von rechts nach links verlaufen. Ein Lautsprecher ist direkt, sozusagen auf kürzestem Weg mit dem Verstärker verbunden. Das Kabel des  zweite Lautsprecher ist in hin und zurück führender Linien über eine Länge von hundert Metern mit dem Verstärker verbunden. Durch die deutliche Länge des zweiten Kabels wird die Tonqualität beeinträchtigt in dem die Lautstärke und die Höhen des Sounds verringert sind. Ein akustisches wandern zwischen der physischen Veränderung des Klangs durch die Kabellänge.
Zwar geht es auch hier wieder um ein durch physische Aktion erzeugtes Klangerlebnis: Der Eindruck entsteht, als schreite der oder die unsichtbare Gehende die Kabellänge ab. Doch ist der Betrachter, die Betrachterin dieses Mal nicht unmittelbar an der Produktion der Töne beteiligt. Vielmehr bildet man im Stehenbleiben und Zuhören einen Gegenpol zu der akustisch signalisierten Bewegung. Oder aber man überträgt die Handlung des Gehens als Parallelaktion in die Wirklichkeit des Ausstellungsraums, indem man sich selbst zwischen den Klangkörpern hin und herbewegt.
Die letzte Arbeit dieser Ausstellung, die gleichermaßen Hör- und Seherlebnisse bereithält, ist eigentlich die erste, die einem noch vor Betreten des Galerieraums begegnet. Dodo Schieleins „music for ears“, oder „Musik für die Ohren“ besteht aus Handlungsanweisungen, die den BetrachterInnen visuell und verbal vermitteln, wie man im Zusammenspiel zwischen dem eigenen Körper, speziell den Händen und Ohren, und dem Außenraum Klänge zu erzeugen vermag. Entscheidend ist der Standort der Agierenden auf offener Straße, denn das jeweils dort stattfindende Geräuschaufkommen übernimmt bei dieser Musikproduktion neben dem eigenen physischen Resonanzkörper der Rezipienten eine wesentliche Rolle.
Entgegen der von Matthias Claudius formulierten Lebensregel „…wo Geräusch auf der Gassen ist, da gehe fürbass“, das als Motto das Jahresprogramm des Einstellungsraums rahmt, fordert Dodo Schieleins „Music for Ears“ kein forsches Voran- und Weiterschreiten. Sondern ein Innehalten und Hineinhören, ein Hineinspüren auch, in den eigenen Klangraum und in den des verkehrstosenden Außenareals, das die Galerie tonal umspült. So lautet etwa die Anweisung b) auf Tafel 2) der Arbeit, die am Fenster zur Straße hin angebracht ist: „Konzentrieren Sie sich ca. zehn Sekunden lang auf die Geräuschquelle und drehen ihren Kopf langsam, immer wieder von links nach rechts.“ Gefolgt von Handlungspartitur c), Zitat: „Während Sie ihren Kopf weiterhin von links nach rechts bewegen, schließen Sie die Ohren mit beiden Händen und hören auf das gedämpfte Geräusch. Wiederholen Sie das Ganze mindestens acht mal.
Das Timing hat hier ebenso viel Bedeutung wie die Bewegungsabläufe. Beides ruft im Zuge der Körperhandlung im Außenraum der Stadt eine eigene, urbane, persönliche ebenso wie kollektive, von inneren und äußeren Realitäten durchwobene Musik hervor: eine Musik der Straße, des Lebens, des Individuums, des persönlichen Erfahrens, die mit dem gemeinschaftlichen Wirklichkeitsraum der Außenwelt ständig zusammengeschaltet und durch diese wieder rückgekoppelt wird.
Dodo Schielein, gebürtige Münchnerin, die seit 1992 in Hamburg lebt, hat als Künstlerin eine mehrsträngige Basis. Sie studierte Gestaltung und Kommunikationsdesign in München, freie Kunst an der Hochschule für bildende Künste Hamburg bei dem namhaften dänischen Fluxus-Komponisten Henning Christiansen, sowie Komposition und Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, unter anderem bei dem Komponisten, Musikologen und Spezialisten für Mikrotonalität, Manfred Stahnke. Ihr Interesse an Neuer Musik schlägt sich nicht nur in der eigenen künstlerischen Produktion nieder. Sondern auch in der Initiierung des „Verbands für aktuelle Musik“ und des Festivals „blurred edges“ die sie 2004 in Hamburg mitbegründete.
Diese verschiedenen Facetten ihrer Beschäftigung mit Visualität und Tonalität vereint die Künstlerin in einem vielschichtigen, weit offenen und dabei höchst präzisen Werk, das Kompositionen für Chöre, Streichquartett, Quintett und Orchester ebenso umfasst wie Musiken für Glaskolben und –schalen, Soundperformances und –installationen in Innen- und Außenräumen, so 2009 auch in einer Unterführung unter der Autobahn A 7 in Hamburg zwischen Elbtunnel und Moorburg, in die das Rauschen des Verkehrs inkorporiert war. Es ist ein Werk, das vom Ansatz her stark performativ und auch interaktiv gedacht ist.
Der Ausschnitt ihres Werks, der im Einstellungsraum zu sehen und zu erleben, zu erspüren und zu erhören ist, macht greifbar, das für Dodo Schielein Sehen und Hören eine inhärente Einheit bilden. Die Tatsache, das Musik prinzipiell unmittelbar mit dem Körper, mit Handlung verbunden ist, wird in ihren Arbeiten nicht nur sichtbar, sondern auch fühlbar, in dem Moment, in dem wir von Betrachtenden zu Handelnden transformiert in den künstlerischen Prozess eingebunden sind. Dodo Schieleins Kunst ist im Sinne „stiller Musik“ eine, die genaues Hinsehen und Hinhören nicht nur fordert, sondern möglich macht. Es ist eine Kunst der Sensibilisierung und der Wahrnehmungsschärfung, die den Klang der Stille nicht scheut. Sondern, im Gegenteil, die Stille selbst zum Klingen bringt.